Am Dienstag, den 21. März 2017 war der flämische Schriftsteller Stefan Hertmans in der Belgischen Botschaft zu Gast. Auf Einladung der Generaldelegation der Regierung Flanderns sprach er mit Journalistin Maike Albath über sein neues Buch Die Fremde.

Die deutsche Übersetzung erschien im Februar bei Hanser Berlin und wurde in der gestrigen Literaturbeilage der Süddeutsche Zeitung als eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs aufgelistet.

Als ihm während des Gesprächs die Publikumsfrage erreicht, warum der Originaltitel De bekeerlinge als „Die Fremde“ und nicht etwa als „Die Bekehrte“ übersetzt sei, legt Hertmans dar, warum er den deutschen Titel sehr passen findet. Seine Geschichte über eine junge christliche Frau, die zum Judentum konvertiert, handle letztendlich von Identität und Entfremdung. Außerdem bezweifle er, dass die Konnotationen, die das Wort „Bekehrte“ auf Niederländisch hervorruft (etwa mit jungen Leuten, die sich heute zum Islam bekehren) im Deutschen die Gleichen seien. Seine Bedenken machen sofort deutlich, dass Hertmans sich des Aktualitätswerts seines Romans sehr wohl bewusst ist, obwohl er sich, wie er betont, „diszipliniert davon ferngehalten hat“, einen Kommentar zur Aktualität zu geben. Das wäre „moralisch“ gewesen – „und das sollte die Literatur niemals sein“, so der Schriftsteller.
Sein Roman spielt im 11. Jahrhundert, in dem es noch kein „out of the box-Denken“ gegeben habe, sagt er. Die Religion habe das Denken komplett bestimmt, seiner Hauptfigur hätte kein Diskurs für ihre Gedanken außerhalb der Religion zur Verfügung gestanden.

Spätestens als er Amin Maaloufs "Mörderische Identitäten" als ein für ihn sehr wichtiges Buch nennt, wird klar, wie sehr Hertmans beim Schreiben über eine sich verfremdende Frau im Mittelalter auch an heute gedacht haben muss: Die Identität der Zukunft werde eine offene, gespaltene Identität sein, schrieb Maalouf, die mordsüchtige Identität sei eine monotone Identität. Wenn man heutzutage Leute sagen höre, ihre Identität sei bedroht, müsse klar sein, unterstreicht Hertmans, dass sie das früher auch schon war.

Auch wenn er von seinem Schreibprozess erzählt, wird deutlich, welches Programm sich zwischen den Zeilen des Buches geschlichen hat: „Das erste was ich gemacht habe, war das erneute Lesen von "Joseph und seine Brüder“. Aus dem Buch von Thomas Mann entnahm er den Satz, den er seinem Roman als Motto voranstellte: „aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und hier.“ Der Gedanke bestätigte Hertmans in seinem Vorhaben, sich in eine geschichtliche Lage hineinzusetzen, mit der er letztendlich überhaupt nichts gemein hatte. Er spricht von einer dazu notwendigen Naivität und führt Friedrich Hölderlin als große Inspiration für sein „naives Wagestück, Menschen der Vergangenheit als Zeitgenossen zu erfahren.“

Er erzählt auch, wie sein ehemaliger Lektor, Will Hansen, ihn schon am Anfang des Unterfangens mit den Worten „du bist doch kein Historiker“ dazu anregte, sich die Materie unbedingt als Schriftsteller anzueignen. Das hieße, die Geschichte von innen zu erzählen, anstatt die Fakten von außen wiederzugeben. Als es ihm dann gelang, einen fiktiven Rahmen zu konstruieren und mittels einer „eigenen Diaspora“ die riesenhaften Lücken in der zu erzählenden Geschichte mit Einbildungskraft auszufüllen, ermöglichte ihm dieser Rahmen auch, den Schmerz zu thematisieren der damit einherging, gleichzeitig komplett distanziert von etwas zu sein und sich doch darin hineinfühlen zu wollen.

Das Buch ist bei Hanser Berlin in der Übersetzung von Ira Wilhelm erschienen. Weitere Auftritte von Stefan Hertmans in Deutschland finden Sie hier unter Veranstaltungen zurück.