Grußwort zu unserem Newsletter für Oktober & November 2016

Das ist, was wir teilen – bereits vor 30 Jahren zog der flämische Theaterkünstler und Bildhauer Jan Lauwers seine ganz eigenen Schlüsse aus dem Motto der diesjährigen Ehrengäste der Frankfurter Buchmesse. Unter dem Namen Needcompany verbündete sich Lauwers mit der Choreografin Grace Ellen Barkey und weiteren Kolleginnen und Kollegen aller Kunstsparten. Und gemeinsam erfanden sie das Theater neu - insbesondere aus deutscher Sicht. Während hierzulande in den 1980er Jahren die theatralen Leitkulturen noch weitestgehend von den traditionellen Schauspielhäusern formuliert wurden, eröffneten die ersten Auftritte der Needcompany völlig neue Perspektiven darauf, wie sich Theater als ein künstlerischer Ort der Teilhabe noch weit widersprüchlicher, durchlässiger, empathischer gestalten ließe. Die Geschichte der Needcompany ist dabei nur ein Beispiel unter vielen. Eine zwischen Flandern, den Niederlanden und Deutschland eng vernetzte Szene entstand, die heute mehr denn je in einem intensiven und lebendigen Austausch steht. Es sind Künstlerinnen und Künstler, die es verstehen, ihr selbst produziertes Theater mitsamt den verhandelten Inhalten und Ästhetiken, aber auch den Arbeits-, Produktions- und Vermittlungsstrategien zu befragen und dabei sämtliche Limitierungen vehement zu strapazieren.

Rund um die Buchmesse 2016 lädt nun das Künstlerhaus Mousonturm gemeinsam mit dem Gastland-Duo Flandern und den Niederlanden zu einem zweimonatigen Sonderprogramm: Tolle Künste haben wir es genannt und es präsentiert eine einmalige Versammlung niederländischer und flämischer Künstlerinnen und Künstler, Kompanien und Produktionszentren mit aktuellsten Arbeiten und außergewöhnlichen Kooperationen. Mit einem Theatermarathon am 7. und 8. Oktober feiern wir 30 Jahre Needcompany: Weit über 30 Beteiligten aus drei Generationen der Needcompany belagern mit Tanz, Theater, Performance, Konzerten und Installationen für 30 Stunden sämtliche Bühnen, Studios und Foyers unseres Künstlerhauses. Bereits am Wochenende zuvor erforschen Bestseller-Autor Arnon Grunberg, Regie-Star Johan Simons und das Kollektiv Wunderbaum aus Rotterdam gemeinsam The Future of Sex. In seiner Choreografie The Common People Frankfurt arrangiert der flämische Choreograf Jan Martens am 20. und 21. Oktober Blind Dates für 48 Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt, die sich nach intensiven Workshops erstmals auf der Bühne vor den Augen des Publikums leibhaftig begegnen. Die abgründigen Visionen des niederländischen Malers Hieronymus Bosch aktualisiert LOD muziektheater aus Gent im Verbund mit Ausnahmekünstlern wie dem Autor Dimitri Verhulst, dem Komponist Vasco Mendonça, dem Regisseur Kris Verdonck und dem Asko|Schönberg Ensemble; ihre klang-, text- und bildgewaltigen Oper Bosch Beach zielt dabei auf unsere schuldhafte Existenz in einer Welt, die oft genug nur als Hölle auf Erden bezeichnet werden kann. Ein weiterer Schwerpunkt ist Europas erfolgreichstem Produktionshaus CAMPO aus Gent gewidmet. Die sieben Inszenierungen sind ab 15. Oktober zu sehen. Zum Abschluss der Programmreihe thematisiert Regisseur Milo Rau ab 2. November in Five Easy Pieces gemeinsam mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus Gent die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux. Das Projekt wurde ebenfalls von CAMPO initiiert und gehört zu den meistbeachteten Theaterereignissen dieses Jahres.

Tolle Künste - im Deutschen steht das Tolle nicht allein für große Begeisterung sondern immer auch für einen deutlichen Hang zum Wahnsinn. Und so danke ich dem Ehrengast-Duo der diesjährigen Frankfurter Buchmesse nicht nur für die engagierte, konstruktive und herzliche Zusammenarbeit im Rahmen der Kuratierung und Finanzierung dieser umfassenden Kooperation. Sie folgt auch auf besondere Weise dem zentralen Motto des Gastlandauftritts: Das ist, was wir teilen. Es hat nicht nur unseren Austausch motiviert, es setzt auch angesichts von politischen Ab- und Ausgrenzungskontroversen ein deutliches Zeichen. Inmitten dieses um gemeinsame Perspektiven ringenden Europas nehmen viele Künstlerinnen und Künstler gerade eine besondere Stellung ein. Sie schaffen und gestalten Freiräume, mit ihren eigenen postnationalen Arbeitsstrukturen, innerhalb oder zwischen ihren angestammten Sparten und Metiers, vor allem aber, indem sie unsere Ideen eines gemeinschaftlichen Lebens und unsere Vorstellungen, wer wann daran teilhaben darf oder ausgeschlossen bleibt, widersprechend infrage stellen.

Matthias Pees
Intendant des Künstlerhaus Mousonturm